Eines ist offenkundig: Wir leben in bewegten Zeiten. Das betrifft nicht nur das politische Umfeld, sondern auch die Wirtschaft. Es entstehen laufend neue Produkte und Dienstleistungen, da sich die Anforderungen der Kundinnen und Kunden ständig wandeln. Um mit diesen Herausforderungen Schritt halten zu können, müssen sich die Kompetenzen von Unternehmerinnen und Unternehmern sowie der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter weiterentwickeln. Die Weichen dafür wurden mit dem Gesetz zur Höheren Beruflichen Bildung (HBB) nun gestellt. „In Zukunft ist in jedem Bereich und in jedem Beruf ein Aufstieg möglich. Die höhere berufliche Bildung führt direkt zu anerkannten staatlichen Abschlüssen, die gleichwertig sogar bis zur Ebene von Bachelor- und Masterabschlüssen gelten“, erklärt der Leiter der Bildungsabteilung der WK Tirol, Hannes Huber. Das berufsbildende System hat sich schon bisher durch hohe Praxisnähe und den engen Kontakt zur Wirtschaft ausgezeichnet. Aus diesem Grund wurde das Erfolgsmodell der österreichischen dualen Ausbildung von vielen Ländern kopiert. Auch die herausragenden Ergebnisse bei internationalen Berufswettbewerben zeigen: die österreichische duale Bildung mit der Lehre als Ausgangspunkt ist internationale Benchmark.
Gelungener Lückenschluss
Das ist umso bemerkenswerter, da die duale Ausbildung bislang einen markanten Makel hat: Es gibt Lücken auf diesem Ausbildungsweg. Zurzeit gibt es einzelne berufspraktische Abschlüsse wie Meister:in, Befähigte:r oder Ingenieur:in – aber nicht in allen Branchen. Zudem klafft zwischen dem Lehrabschluss und einer allfälligen Meister- oder Befähigungsprüfung eine große Lücke, oberhalb dieser Abschlüsse ist ebenfalls nichts zu finden. Das österreichische Parlament diese Lücken Ende letzten Jahres mit dem Gesetz zur Höheren Beruflichen Bildung geschlossen und damit den Weg für eine deutliche Aufwertung der Berufsbildung frei gemacht. Das Gesetz tritt im Mai 2024 in Kraft und eröffnet die Möglichkeit, die duale Bildung in Praxis und Theorie zu einem eigenständigen, durchgängigen berufspraktischen Bildungssystem auszubauen. Die Wirtschaftskammer Tirol war Initiator, ist federführend seit Jahren an der Ausarbeitung der nötigen fachlichen Grundlagen für das Gesetz beteiligt und hat auf österreichweiter Ebene im Einklang mit der WKÖ wesentlich dazu beitragen, dass diese gesetzliche Grundlage nun geschaffen wurde.
Durchgängige Bildungslaufbahnen
Damit begegnen sich die beiden Ausbildungssysteme erstmals auf Augenhöhe. Für Lehrabsolvent:innen stehen damit in Zukunft attraktive Chancen offen, sich zumindest bis auf den Level eines Master-Abschlusses zu qualifizieren, ohne dafür ein Studium belegen zu müssen - sogar in Berufsfeldern, in denen es bislang keine Meister- oder Befähigungsprüfung gibt. Die Höhere Berufliche Bildung wertet die berufliche Ausbildung wesentlich auf und schafft endlich echte Wahlfreiheit. Somit eröffnet sich jetzt eine durchgängige Bildungslaufbahn besonders für jene Menschen, die praxisorientiert sind und sich der dualen Bildung hingezogen fühlen. „Das macht den entscheidenden Unterschied: Die HBB ermöglicht es, dass jeder nach seinen Neigungen und Talenten wählen kann, welcher Beruf zu ihm passt. Es ist in jedem Beruf eine optimale Bildungskarriere möglich“, betont der Leiter des Bildungsconsultings der WK Tirol, Wolfgang Sparer.
Antwort auf aktuelle Herausforderungen
Die Höhere Berufliche Bildung bietet Antworten gleich auf mehrere Herausforderungen. Allen voran: Der akute Fachkräftemangel. Ab sofort werden sich mehr Menschen für den berufspraktischen Weg entscheiden, weil er deutlich attraktiver geworden ist und neue Perspektiven gewonnen hat. Zudem können sich bestehende Fachkräfte nun höher qualifizieren. Das trifft punktgenau die Nachfrage der Unternehmen sowie der Arbeitskräfte: Eine Umfrage des market-Instituts zeigt, dass 53 Prozent der Lehrlinge nach der Lehre eine weitere Ausbildung machen wollen. 44 Prozent wünschten sich zudem die Möglichkeit, im eigenen Beruf höhere Bildungsabschlüsse zu erwerben. Darüber hinaus kommt die Höhere Berufliche Bildung kommt auch der kleinteiligen Struktur der heimischen Wirtschaft entgegen. Die – vergleichsweise wenigen – Großbetriebe haben die Ausbildung ihrer Fachkräfte mit eigenen Akademien selbst in die Hand genommen. Klein- und Mittelbetriebe verfügen über diese Möglichkeit nicht. Sie profitieren von der Höheren Beruflichen Bildung besonders, indem sie auf neue Ausbildungswege und Qualifikationen zugreifen können. Schließlich bringt die HBB auch Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter Vorteile: Sie verbessern ihre Stellung am Arbeitsmarkt, in dem sie über moderne, standardisierte und damit vergleichbare Qualifikationen verfügen.
Wie es weiter geht
Mit der Höheren Beruflichen Bildung wurde der Startschuss für neue und zeitgemäße Qualifikationen gelegt. Der Meisterabschluss und die Befähigungsprüfungen sind bereits integrierter Bestandteil der HBB. Die weiteren Qualifikationen und Abschlüsse der HBB werden ab Inkrafttreten des Gesetzes sukzessive je nach Bedarf von den jeweiligen Branchen definiert und ins Leben gerufen. In den kommenden Monaten und Jahren geht es somit darum, österreichweit neue HBB-Qualifikationen zu entwickeln. „Die duale Bildung hört dann nicht mehr bei Meister- und Befähigungsprüfungen auf, sondern geht über Bildungsbausteine weiter in höhere Qualifikationsebenen“, erklärt WIFI-Geschäftsführer Paul Vyskovsky. Für die Betriebe bieten sich damit große Chancen: „Sie können ihre Betriebsstrukturen so anpassen, dass die neu geschaffenen Qualifikationen optimal zum Einsatz kommen können und die Mitarbeitr:innern, Unternehmer:innen und Betriebe insgesamt in ihrer Weiterentwicklung unterstützen “, erklärt Paul Vyskovsky. So entfalten HBB-Ausbildungen ihre volle Wirkung und verbessern damit deutlich die Wettbewerbssituation gegenüber der Konkurrenz.
Der Weg zu diesen neuen Qualifikationen geht im Bereich der Wirtschaft über die Fachorganisationen der Wirtschaftskammer. Die Branchenvertretungen werden die Vorgangsweise in ihren Betrieben durchleuchten, auf Basis dieser Ergebnisse zukunftsorientierte Betriebsstrukturen konzipieren und die optimalen Berufsbilder ableiten. Darauf aufbauend werden transparente Ausbildungs- und Qualitätsstandards auf allen Ebenen entwickelt. Die Vorbereitungskurse dafür werden von anerkannten beruflichen Bildungseinrichtungen wie dem WIFI Tirol Schritt für Schritt geschaffen. Akkreditierte Prüfungsstellen vergeben dann den formalen Abschluss. Die HBB ist übrigens kein Experiment mit ungewissem Ausgang: Die Schweiz und Deutschland verfügen seit Jahren über ein vergleichbares System und haben damit beste Erfahrungen gemacht. Die dortige Anzahl an Absolventen:innen spricht für sich und zeigt den hohen Nutzen für die gesamte Wirtschaft durch höherqualifizierte Fach- und Führungskräfte.