Arbeits-, Wirtschafts- und Organisationspsychologie. Psychologische Mechanismen wirken nicht nur auf Angebot und Nachfrage am Markt, sondern sind auch für den Erfolg von Organisationen und Personen entscheidend.
Das bekannte Zitat „Wirtschaft ist Psychologie“ hört man in letzter Zeit öfter. Gemeint ist damit, dass die volkswirtschaftliche Entwicklung nur zu einem Teil von harten Daten und Fakten abhängt, und zum anderen Teil von den Ängsten, Wünschen und Erwartungen der Marktteilnehmer:innen beeinflusst wird. Zu beobachten war dies zuletzt bei den Energiekosten: Aufgrund der Befürchtung, es würde nicht genügend Energie für diesen Winter zur Verfügung stehen, schossen die Preise in schwindelnde Höhen, obwohl objektiv betrachtet genügend Reserven vorhanden waren. Das funktioniert auch in anderen Situationen. Die Aktienbörsen sind geradezu ein psychologischer Feldversuch: Entsteht ein Hype bezüglich einer Firma oder eines Produktes, gehen die Kurse dafür durch die Decke, zunächst einmal ungeachtet dessen, ob die Versprechen auch tatsächlich eingelöst werden können.
Auch auf betrieblicher Ebene spielen psychologische Mechanismen eine große Rolle. Für den Erfolg einer Firma ist entscheidend, dass das Team gut eingespielt ist und miteinander „kann“. Und auch bei jeder bzw. jedem Einzelnen kommt es darauf an, dass Eignungen, Neigungen und Talente bestmöglich entwickelt und eingesetzt werden. Das muss man nicht dem Zufall überlassen. Clevere Organisationen und Personen nutzen die Erkenntnisse der Arbeits-, Wirtschafts- und Organisationspsychologie (AWO). Diese beschäftigt sich mit dem menschlichen Verhalten und Erleben in der Arbeitswelt. Die Unterstützung für Betriebe reicht von der der Suche und Auswahl von Beschäftigten über die Gestaltung von Arbeitszeit- und Entlohnungssystemen bis hin zu Training und Coaching für Führungskräfte und Teams. Eine zentrale Aufgabe liegt in der seit 2013 vorgeschriebenen Arbeitsplatzevaluierung in Hinblick auf physische und psychische Belastungen. In Österreich bildet die Fachsektion „Arbeits-, Wirtschafts- und Organisationspsychologie“ des Berufsverbandes Österreichischer Psychologen (BÖP) den institutionellen Rahmen.
Angebote für jede Betriebsgröße
Um die Leistungen von Arbeits-, Wirtschafts- und Organisationspsychologen in Anspruch zu nehmen, muss man kein internationaler Großkonzern sein. Das Bildungsconsulting der WK Tirol befasst sich mit psychologischen Methoden und Instrumenten und bietet sowohl Unternehmen jeder Größe als auch Privatpersonen eine Reihe von Angeboten. Im gesamten Spektrum – Berufsorientierung, Bildungsberatung, Personaldiagnostik, Berufsbildung und Karriere-Beratung – spielen psychologisches Know-how und der Einsatz von psychologischen Testverfahren eine große Rolle (siehe Kurzinterview mit Teamleiter Andreas Zelger).
Für die Arbeits-, Wirtschafts- und Organisationspsychologie gilt in besonderem Maße, dass die Entwicklung neuer Methoden und Instrumente rasant fortschreitet. Die jährliche Tagung der österreichischen AWO-Psychologen:innen im Jänner bot einen Überblick über aktuelle Strömungen und Neuerungen. „Wir beobachten diese Entwicklungen genau und lassen sie in unsere Angebote für Tiroler Betriebe und deren Mitarbeiter:innen einfließen“, erklärt Corinna Kuttner, Beraterin am Bildungsconsulting.
Mit Psychologie gegen den Fachkräftemangel
Der Tagungsbeitrag von Andreas Ekl, Human Resource Manager von Canon für Europa, den Mittleren Osten und Afrika, befasste sich mit den aktuellsten Entwicklungen im Personalmanagement. Einen zentralen Stellenwert nimmt für Ekl der Kampf um die besten Talente ein. Der Fachkräftemangel ist gemeinsam mit den Energiekosten die größte Herausforderung für die heimischen Betriebe. Bei den Gegenmaßnahmen wird seitens Politik und Wirtschaft an alles Mögliche gedacht – von der besseren Einbindung von Frauen und Älteren bis hin zu strengeren Zumutbarkeitsbestimmungen. Die verstärkte Nutzung psychologischer Instrumente sowie die Unterstützung durch psychologische Experten:innen werden dabei häufig vergessen. „Dabei liegen gerade im gezielten Recruiting, einem professionellen Generationen-Management oder attraktiven AngebotenzurKarriereentwicklungPotenziale, dierasch wesentliche Verbesserungen bringen“, erklärt Andreas Zelger.
In den letzten Jahren haben sich die Anforderungen an die Unternehmensführung aller Branchen und Betriebsgrößen massiv geändert.
Andere Zeiten, andere Führung
In seiner Keynote „Moderne Führungskultur in herausfordernden Zeiten“ befasste sich Buchautor, Unternehmensberater und Trainer Prof. Florian Becker intensiv mit diesem Thema. Er ortet eine „Krise der Motivation“ und belegt dies mit Zahlen: Nur 40 % erleben ihre Arbeit als „gut ausgefüllt“, 17 % fühlen sich über- und ganze 43 % unterfordert. Zudem ortet Becker die massive Ablenkung (alle 4 Minuten!) als Problem. Moderne Führung muss es einerseits schaffen, die Rahmenbedingungen für fokussiertes Arbeiten wieder herzustellen, andererseits Maßnahmen sowohl gegen Über- als auch Unterforderung zu ergreifen, da ansonsten ein wesentlicher Teil der möglichen Leistung verschenkt wird.
„Für den Großteil der genannten Herausforderungen kann die Arbeits-, Wirtschafts- und Organisationspsychologie Lösungen oder zumindest spürbare Unterstützungen bieten“, erklärt Andreas Zelger. Das Bildungsconsulting ist am Puls aktueller Entwicklungen und lässt diese in praxistaugliche, einfach anzuwendende Instrumente einfließen, die den heimischen Betrieben und ihren Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern zur Verfügung stehen.
Weitere Informationen finden Sie in den Publikationen.
Theoretisches Wissen mit praktischem Nutzen
Interview mit Mag. Andreas Zelger, Teamleiter am Bildungsconsulting der Tiroler Wirtschaftskammer
Am Bildungsconsulting haben viele der Expert:innen einen fachlichen Hintergrund aus der Psychologie. Warum ist das so?
Ein Psychologiestudium ist für die Arbeit im Bildungsconsulting erforderlich, da dieses Wissen und Kenntnisse psychologischer Theorien vermittelt, welche für die Arbeit mit wirtschaftspsychologischen Fragebögen und Testverfahren wichtig sind. Dabei gilt es, Gütekriterien und wissenschaftliche Standards zu gewährleisten – schließlich geht es um die Prognosegüte, um personenbezogene Leistungs- und Persönlichkeitseigenschaften in bestmögliche Übereinstimmung mit Ausbildung und Beruf zu bringen. Ebenso entwickeln unsere Psycholog:innen am Bildungsconsulting eigene Fragebögen und Testverfahren, welche im Bereich der Ausbildungs-, Berufs- und Personaleignungsdiagnostik zum Einsatz kommen. Aktuell wird durch das Bildungsconsulting die Online-Diagnostikplattform DIAGON entwickelt, welche Privatpersonen und Unternehmen im Rahmen der Berufs- und Personaldiagnostik eine ortsunabhängige Test- und Beratungsplattform ermöglichen wird.
Was kann Psychologie für Firmen, was für potenzielle Arbeitnehmer leisten?
Für Unternehmen bieten Wirtschaftspsychologinnen und -psychologen Unterstützung im Recruiting und der Auswahl von Mitarbeiter:innen, um so die passendsten Kandidat:innen für eine Stelle zu identifizieren. Im Bereichen der Mitarbeiter:innen- Entwicklung und Führungskräfte- Trainings bieten wir diagnostische Verfahren, Workshops oder Schulungen an, um Fähigkeiten und Kompetenzen von Mitarbeiter:innen zu entwickeln, Perspektiven zu erarbeiten und Mitarbeitende im Unternehmen zu halten. Für potenzielle Arbeitnehmer:innen kann wirtschafts- und organisationspsychologische Beratung hilfreich sein, um die Stärken und Interessen zu erheben und dabei helfen, die beste Schul-, Berufs- und Studienwahl zu treffen.
Sind die Angebote des Bildungsconsulting auch für kleine Betriebe und Einzelpersonen nutzbar?
Ja. Berufs- und Personalberatung ist für kleine Betriebe sowie auch Einzelpersonen in folgenden Bereichen nützlich: Erstens in der Bildungs-, Berufs-, Studienwahl- und Karriereberatung. Zweitens in der Beratung bei beruflicher Um- und Neuorientierung. Drittens in der Rekrutierung und Auswahl von Mitarbeiter:innen, unter anderem in der Gestaltung von Stellenanzeigen, dem Durchführen von Auswahl- und Entwicklungsverfahren, Interviews oder dem Bewerten von Bewerbungsunterlagen. Und viertens in der Personalentwicklung, um die Fähigkeiten und Kompetenzen von Mitarbeiter:innen zu fördern und diesen damit Perspektiven aufzuzeigen und sie im Unternehmen zu halten.
Begleitung von Transformationsprozessen
Kurt Seipel ist Arbeits-, Wirtschafts- und Organisationspsychologe, Unternehmensberater und Mitglied im Leitungsteam Tirol des Berufsverbands Österreichischer Psychologen (BÖP). Im Interview zeigte er die vielfältigen Potenziale der AWO-Psychologie auf.
Welche Felder werden derzeit hauptsächlich von der Arbeits-, Wirtschafts- und Organisationspsychologie bearbeitet?
Die AWO-Psychologie ist als angewandte Wissenschaft in Forschung und Praxis seit über 100 Jahren aktiv. Das Spektrum reicht von der Welt der Arbeit über den gesamten Personalund Organisationsbereich inklusive Fragen der Mitarbeiter:innen- und Unternehmensführung bis hin zum Markt- und Konsumentenverhalten. Zurzeit steht die Digitalisierung, damit verbunden Homeoffice und die Auswirkungen der Pandemie und Krisen auf arbeitende Menschen, im Vordergrund. Seit 2013 kümmern sich AWO-Psycholog:innen im Rahmen des Arbeitnehmerschutzes verstärkt um den Bereich der psychischen Belastungen von Mitarbeitenden. Was fehlt derzeit aus Ihrer Sicht? Aus meiner Sicht könnte die gesetzliche Verankerung sowie die öffentliche Wahrnehmung der Leistungsfähigkeit der AWO-Psychologie noch deutlich verbessert werden – hier haben wir als unternehmensnahe Dienstleister:innen noch deutlichen Nachholbedarf.
Wo liegt das zukünftige Entwicklungspotenzial für die AWO-Psychologie?
Da gibt es mehrere interessante Aspekte: Die KIAnwendungen und deren Auswirkungen auf uns Menschen, die ethischen Verantwortlichkeiten, die umfassende Begleitung von Transformationsprozessen – Veränderungen gehören nicht zu den Stärken von uns Menschen. Ein weiteres Entwicklungspotenzial wird die Begleitung von Unternehmen bei der Implementierung von – ganz klassisch formuliert – Mensch-Maschine- Systemen sein. Oft wird argumentiert, Eignungsdiagnostik koste zu viel und wird daher von Firmen nicht in Anspruch genommen.
Teilen Sie diese wirtschaftliche Einschätzung?
Natürlich nicht: Es gibt eine Vielzahl von Studien, die das Kosten-Nutzenverhältnis einer professionellen Eignungsdiagnostik positiv darstellen. Der Gap zwischen wissenschaftlichen Erkenntnissen und der gelebten Praxis ist nach wie vor sehr groß: Seit Jahren führen unstrukturierte Bewerbungsinterviews die Hitliste in der unternehmerischen Praxis bezüglich der Auswahlverfahren an - dabei ist das die unzuverlässigste Auswahlmethode. Fehlentscheidungen kosten die Unternehmen Geld, verursachen soziale Kosten und beschädigen den Employer Brand.
Welchen Beitrag kann die AWO-Psychologie beim Fachkräftemangel, im Speziellen bei der qualifizierten Zuwanderung leisten?
Wir haben in den letzten 20 Jahren besonders in Tirol Pionierarbeit im Feld der Kompetenzen und der Kompetenzanerkennungsverfahren geleistet. Fachkräfte und ihre Tätigkeiten sind keine trivialen Verbindungen mehr: So versuchen wir in den Unternehmen fachlich notwendige Qualifikationen durch Kompetenzen von Mitarbeitenden zu substituieren sowie durch Arbeits- und Aufgabenanalysen bestimmte Tätigkeitsbereiche zu digitalisieren (wo das möglich ist). Die interkulturelle Wirtschaftspsychologie unterstützt beispielsweise Onboarding-Prozesse und hilft den Unternehmen Diversität als Chance zu verstehen – und nicht als Notlösung. Dafür müssen wir noch viel an den Voraussetzungen arbeiten, nämlich Sprache, Kultur und den Fit in Richtung Organisationskultur zu verstehen.
Wie können psychologische Instrumente Betriebe dabei unterstützen, die digitale Transformation zu bewältigen?
Klassische psychologische Instrumente sind Fragebogen, Tests und alle anderen denkbaren Interventionsinstrumente, die Transformationsprozesse einleiten bzw. unterstützen können. AWO-Psycholog:innen sind durch ihre Ausbildung wissenschaftlich geprägt. Dieses klare und faktenbasierte Denken und Handeln unterstützt Unternehmen bei investiven Entscheidungen genauso wie bei der Frage, welche Art der Transformation für das betreffende Unternehmen geeignet ist. Es reicht ja nicht, dass ein Betrieb sich einen Zoom-Account besorgt und dann verkündet: „Wir machen jetzt in Homeoffice und sind 24/7 für unsere Kund:innen da.“ Um in der Transformation erfolgreich zu sein, sind neben einer Organisationsdiagnose viele weiterführende Fragen zu beantworten, die nicht nur technische sind, sondern vor allem mit dem Verhalten und Erleben von Menschen in Organisationen zu tun haben.