Berufsbildung ist bekannt für ihre praktische Komponente. Für die duale Lehrlingsausbildung hat sich das Zusammenspiel von Ausbildungsbetrieb und Berufsschule bewährt. Dass sich berufliche Aus- und Weiterbildung aber besser weiterentwickeln lässt, wenn eine wissenschaftlich-theoretische Begleitung erfolgt, liegt auf der Hand. Deswegen wird jetzt auch auf universitärer Ebene Forschung im Bereich Berufsbildung geboten. Seit zweieinhalb Jahren gibt es den entsprechenden Lehrstuhl auf der SOWI-Fakultät der Universität Innsbruck unter der Leitung von Professor Bernd Gössling. Im Zentrum stehen Fragen und Problemstellungen der Berufsbildungspraxis. Die Forschungsperspektive berücksichtigt dabei insbesondere Anliegen der betrieblichen Bildung. Das Ziel liegt darin, wissenschaftliche und praxisrelevante Theorien zur Berufsbildung zu entwickeln. Dafür werden Lehr- und Lernprozesse insbesondere in der Lehrlingsausbildung und in der innerbetrieblichen Weiterbildung untersucht. Kurz gesagt: Alles dreht sich um die Frage, welches Umfeld
es braucht, damit berufliche Bildung bestmöglich gelingt. Derzeit ist Professor Gössling den Antworten auf diese Fragestellung mit vier Forschungsprojekten auf der Spur.
1. Corona als Chance für die Berufsbildung
Dieses Projekt untersucht Veränderungen der betrieblichen Ausbildung während und nach der pandemiebedingten Lockdowns. Erforscht werden beispielsweise der Einsatz digitaler Tools und die Folgen der Umstellung auf Homeoffice. Zudem stellt sich angesichts der ad hoc Erfahrungen mit digitaler Lerntechnologie die Frage, wie das Potenzial innovativer Ausbildungsformate für die Verbesserung der Ausbildungsqualität auch langfristig genutzt werden könnte. Die Forschungsergebnisse zeigen, dass digitale Techniken bislang vor allem zur zeitlichen und räumlichen Flexibilisierung eingesetzt wurden. Das große Potenzial, damit vor allem individuelles und selbstständiges Lernen zu fördern, wird bisher jedoch nur selten realisiert, vorwiegend von Betrieben, die sich bereits vor der Pandemie mit diesen Chancen auseinandergesetzt haben. Professor Gössling hebt vor allem die digitalen Lehrkompetenzen der Ausbilder selbst hervor, um die Chancen und Vorteile digitaler Lerntechnologien in der beruflichen Bildung zu nutzen.
2. Schlüsselkompetenzen für die Arbeitswelt der Zukunft
Das AMS-geförderte Projekt „KEYS“ untersucht Schlüsselkompetenzen für die Arbeitswelt der Zukunft und Möglichkeiten, deren Entwicklung zu fördern. Im Fokus stehen Menschen mit geringer formaler beruflicher Qualifikation. Das sind beispielsweise Beschäftigte, die sogenannte „Einfacharbeit“ ausüben. Die wandelnden Arbeitsanforderungen machen auch für diese Gruppe entsprechende Qualifizierungsschritte notwendig. Betroffen sind häufig Personen im Erwachsenenalter – doch speziell das duale Ausbildungssystem ist auf diese Zielgruppe bisher wenig ausgerichtet. Das Projekt soll die Grundlagen dafür schaffen, geeignete Aus- und Weiterbildungsangebote für diesen Personenkreis zu entwickeln. Dadurch kann die duale Ausbildung auch für „nicht-traditionelle Lehrlinge“ jenseits des Jugendalters attraktiv werden.
3. Fachliches Innovieren in der Berufsbildung
Bei diesem Projekt stehen die Berufsschulen und deren Lehrpersonal im Mittelpunkt. Ausgangspunkt ist die Tatsache, dass wissenschaftliche Veränderungen und der Wandel der Arbeit eine laufende Aktualisierung des Berufswissens erforderlich machen. Dabei geht es nicht nur um neue Berufsbilder und Qualifikationen, sondern auch darum, Innovationsmöglichkeiten bei der schulischen Umsetzung bereits etablierter Lehrberufe zu nutzen. Berufliche Lehrpläne und Ausbildungsordnungen sind seit vielen Jahren bewusst als offene Curricula konzeptioniert worden, die es den Pädagogen ermöglichen, neue technische Entwicklungen und regionale Besonderheiten in ihren Unterricht mit aufzunehmen. Ziel dieses Projektes ist es, die Berufsschullehrer dabei zu unterstützen, ihr eigenes berufspraktisches und inhaltliches Wissen zu aktualisieren und auf dieser Basis ihre Schülerinnen und Schüler auf topaktuelle berufliche Herausforderungen vorzubereiten.
4. Transitions
Dieses Projekt widmet sich dem strukturellen Wandel der beruflichen Bildung. In den vergangenen Jahren hat es hier einen massiven Umbau gegeben, beispielsweise mit der Einführung des Nationalen Qualifikationsrahmens (NQR) oder aktuell mit dem Aufbau einer höheren Berufsbildung im Anschluss an die Lehre. Das ist wichtig, weil schon heute Bildungsbiografien längst nicht mehr geradlinig verlaufen. Alleine der Akademisierungstrend führt dazu, dass manche junge Menschen sich für ein Studium entscheiden und schon nach einigen Semestern feststellen, dass sie lieber in die Berufsbildung wechseln wollen. Auf solche Übergänge ist das Bildungssystem insgesamt noch immer nicht ausreichend eingestellt. Ziel des Projektes ist es, Veränderungen bei individuellen Entscheidungen zu Bildungsweg und Berufswahl angesichts der Einführung hybrider Ausbildungsmodelle zu untersuchen, beispielsweise der Einführung der Lehre mit Matura oder der Entwicklung von Berufsbildungsangeboten für diejenigen, die ihr Studium ohne Abschluss abbrechen.
Fazit: Der ordentliche Lehrstuhl für Wirtschaftspädagogik mit Schwerpunkt Berufsbildungsforschung ist ein wesentlicher Mosaikstein, um das Erfolgsmodell der dualen Ausbildung sowie die berufliche Bildung in Österreich ständig weiterentwickeln zu können. Davon profitieren alle Beteiligten: Die Betriebe, die Fachkräfte selbst, und letztlich auch die Konsumentinnen und Konsumenten, indem die Qualität bei Dienstleistungen und Produkten sichergestellt wird.